Interdisziplinärer Survival-Guide

Du stehst am Abgrund? Ein Projekt, eine Recherche, ein Kollektiv, an dem du dich beteiligen willst, drängt dich an den Rand deiner Disziplin? Oder bist du gar schon in den Graben zwischen den Disziplinen gestürzt? Dann sind wir ja schon zu zweit. Wie man hier wieder rauskommt, weiss ich auch noch nicht. Dafür kenne ich die drei wichtigsten Survival-Tipps.

Die Sirenen stehen an jeder Ecke. Sie lauern in Projektbeschreibungen, in Stelleninseraten. Ihr Gesang dringt aus Imagevideos und Ausstellungskatalogen an deine Ohren. Sie packen dich beim Studieninformationstag am Arm. Interdisziplinääär, locken ihre Stimmen. Sie versprechen dir Ideen und Erkenntnisse, die du dir ohne sie nicht einmal ausmalen kannst. Sie schwören, dass sie deine Neuronen neu arrangieren werden, vernetztes Denken, säuseln sie, für eine vernetzte Zukunft (dabei vergessen sie zu erwähnen, dass dein Gehirn auch ganz vorzüglich vernetzt ist, wenn du dich ein Leben lang ausschließlich mit Zahlentheorie oder Strickmustern befasst). Ich will damit nicht sagen, dass die Sirenen zu viel versprechen. Nur, dass sie dich auf der Suche nach Wahrheit und neuen Werken durch düstere Täler, verschlungene Pfade und auch auf den einen oder anderen Holzweg führen werden. Bevor du aufbrichst, möchte ich dir drei Ratschläge auf den Weg geben.

Wer ich bin, dass ich hier Ratschläge austeile? Nun, nicht nur mach’ ich was mit Medien, ich bin auch ausgebildete Fachfrau für alles, was über, unter oder neben den Fächern ist. Meine extensive Ent-Expertise beinhaltet ein Studium mit dem nichtssagenden Namen “Geschichte und Philosophie des Wissens”, die Mitgliedschaft in einem Fördernetzwerk mit “interdisziplinärem Ansatz” und das Ehrenamt in zwei Organisationen, die auf die eine oder andere Art verschiedene Disziplinen nebeneinander her, durcheinander durch oder aufeinander los jagen. Über die Jahre hinweg habe ich in diesen drei Kontexten allerlei Anekdoten gesammelt, aus denen ich jetzt schamlos allgemeingültige Plattitüden ableite. Los geht’s!

1. Gemeinsames Objekt

Wer den Sirenen in die finsteren Schluchten zwischen den Disziplinen, in die hologrammhaft flimmernden Zonen ihrer Überschneidung folgt, gerät in Versuchung, mit seinen Weggefährt*innen am Ende nur über jene Schluchten und Zonen zu sprechen. Dies sind Gespräche, die geführt werden müssen. Doch nur sie und zuerst sie zu führen, ist der schnellste Weg, den Boden zu verlieren. Menschen haben die Welt auf schwindelerregend viele verschiedene Weisen kennengelernt und sich zu eigen gemacht. All diese Welten innert kurzer Zeit zu bereisen, verursacht eine Art epistemisches - also auf das Wissen und den Erwerb von Wissen bezogenes - Schleudertrauma. Interdisziplinarität um ihrer selbst willen muss nicht sein.

Je offengeistiger und zukunftslustiger die Leute, die man fragt, desto schlechter der Ruf von “Grenzen”. Tatsächlich sind die Methoden und die Wissensschätze der Menschheit eine Landschaft für sich, und auch die Linien, die wir durch diese Landschaft gezogen haben, sind durch die Geschichte gewachsen und könnten auch anders - oder gar nicht - sein. Doch wir sortieren, um uns festhalten zu können, während wir durch den Treibsand waten. Wenn wir Grenzen überschreiten oder aufheben, dann müssen wir uns stattdessen neue Beziehungen zueinander und zur Welt bauen, an denen wir uns festhalten können. Eine Beziehung braucht auch die Meta-Gespräche über sich selber, aber das ist nicht alles und sicher nicht das Allererste, was sie braucht. Der Dichter Donald Hall schrieb über seine Ehe: « (…) but most of the time our gazes met and entwined as they looked at a third thing. Third things are essential to marriages, objects or practices or habits or arts or institutions or games or human beings that provide a site of joint rapture or contentment. Each member of a couple is separate; the two come together in double attention. Lovemaking is not a third thing but two-in-one. John Keats can be a third thing, or the Boston Symphony Orchestra, or Dutch interiors, or Monopoly. For many couples, children are a third thing.»1

Die besten Erfahrungen mit Interdisziplinarität hatte ich nie, wenn die Grenzen überschritten wurden, weil "interdisziplinär" ein Buzzword ist oder um darüber zu sprechen, in welcher Beziehung die betroffenen Disziplinen sich denn befinden und wie diese aussehen sollte. Diese Fragen sind wichtig, aber wer den Sirenen folgen will, ohne sich zu verlieren, sollte sie in Maßen zu sich nehmen. Die besten Erfahrungen hatte ich immer dann, wenn ich mit anderen aus verschiedenen Wissens-Kulturen zusammenkam, mit dem Ziel, uns gemeinsam um ein drittes Ding zu kümmern. Um ein Problem zu lösen oder ein Thema zu erforschen, das niemand von uns allzu fest in der Hand hielt. Der Moment in meinem Seminar über Alchemie in der frühen Neuzeit zum Beispiel, in dem die Historiker*innen in Frakturschrift und Latein oder veraltetem Deutsch verfasste Rezepte zugänglich machten, und die Chemiker*innen sich überlegten, welche Reaktionen dahinterstecken könnten und wie man die Resultate reproduzieren könnte. Denk an das Hollywood-Klischee: eine kleine Gruppe Menschen wird auf eine Weltraumexpedition geschickt, um Aliens zu finden, und da ist dann so eine Astrobiologin und eine Humanmedizinerin und ein Geophysiker und ein Linguist. Dies ist nicht die einzige Interdisziplinarität. Aber es ist die, die am leichtesten zu überleben ist.

2. Gegenseitiger Respekt

Von meinen drei offensichtlichen Tipps sollte dieser eigentlich der Offensichtlichste sein: Nicht nur interdisziplinäre Zusammenarbeit setzt Respekt voraus, sondern jede Art von Zusammenarbeit. Leider schützt die scheinbare Selbstverständlichkeit nicht davor, dass interdisziplinäre Interaktionen an dieser Stelle scheitern. Denn Respekt bedeutet nicht nur Respekt auf persönlicher Ebene, sondern auch Respekt für die Disziplinen, die sich zusammenfinden. Das heißt natürlich nicht, keine Kritik aneinander zu üben. Gefragt ist aber eine Haltung von Offenheit und Neugierde gegenüber Dingen, die man noch nicht so gut kennt, und auch die Akzeptanz, dass andere sie vielleicht besser kennen. Es heißt aber auch: Selbstrespekt. Interdisziplinarität heißt nicht, dass du nicht auf deiner Expertise beharren darfst. Du weißt vermutlich mehr über dein Ding als andere. Sich nicht verunsichern zu lassen, ist gerade dann wichtig, wenn dein Ding als "einfacher" gilt oder in der Hackordnung der Disziplinen einen tieferen Status hat. Du weißt schon, was ich meine: Ein bisschen Malen, kann doch jeder, Philosophie, was für ein brotloses Studium, etc. Die Ingenieur*innen, die sich auf ein Kunstprojekt einlassen, mögen persönlich noch so offen und vorurteilsfrei sein, diese Hierarchien sind sneaky. Die Wissenschaftsforscherin Megan Halpern hat in den Nullerjahren ein Projekt namens “Across the Great Divide” begleitet. Dabei wurden Paare von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen gebildet, um gemeinsam eine Performance für ein Festival auf die Beine zu stellen. Eins dieser Paare bestand aus Maren, einer Tänzerin, und Itai, einem Physiker, der die Flügelbewegungen von Fruchtfliegen erforscht. Halpern berichtet, dass beiden Fairness und Ausgeglichenheit wichtig waren, und dass gerade der Physiker schon früh seine Sorge ausdrückte, dass die Zusammenarbeit einseitig werden könnte:

“(…) This time around, early in the process, Itai noticed that he was providing the source material — descriptions of scientific phenomena — and that Maren was reading these descriptions to come up with movement. To him, it seemed that he was providing inspiration for her, but the act was not reciprocated. In retrospect, it seems to me that he was providing the content around which the show would be developed, thus defining the central focus of the piece.”

Obwohl diese Dynamik den beiden bewusst war, fiel es ihnen schwer, sie zu unterbinden, ohne die Disziplinen voneinander wegzubewegen:

"We had engaged in a slow, unconscious pulling apart of art and science, in spite of our conscious efforts to marry the two. It was as if there were too many skirmishes over their shared territory for it to continue to be comfortably shared, and now they were vying for that territory. There was still a larger map in which they believed they could coexist, but this new cartography allowed for neighboring pieces of the landscape of the performance, rather than co-owned spaces. Thus far, the shift came largely from Maren because it was her autonomy that needed protecting.”2

Diesen Text von Halpern habe ich übrigens während einer Projektwoche gelesen, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst zu erörtern. Nicht nur waren wir interdisziplinär - die Studierenden und Referent*innen waren Künstler*innen, (Kunst-)Historiker*innen, Mediziner*innen, Jurist*innen, Physiker*innen und mehr - unser Objekt war sozusagen die Interdisziplinarität an sich. Das war mein persönlicher Peak Interdisziplinär - doch je höher man klettert, desto tiefer der Fall. Bald tauchten erste Brüche im gegenseitigen Respekt auf: In der Kaffeepause stritt ich mich mit einem Professor, der der methodischen Strömung, in der ich ausgebildet war, aufgrund von Vereinfachungen und Vorurteilen vorwarf, Faschismus zu fördern. Daneben kriegte sich eine Kunsthistorikerin mit einem Künstler in die Haare, der der Geschichtswissenschaft essentiell ihr Existenzrecht absprach, weil er die Vergangenheit als Ballast sah, den es radikal abzuwerfen gilt. Dann tauchte auch noch ein Referent auf, der mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein verkündete, in den philosophischen Fakultäten finde gar keine echte Philosophie statt. Wenn man ein modernes Philosophie-Handbuch aufschlage, behauptete er, dann finde man darin keinen Eintrag über seine persönlichen Lieblings-Philosophen - ein klarer Beweis für den Zerfall des Faches. Als Philosophie-Studentin löste dies bei mir zwar Augenrollen aus - aber ich konnte nicht das Selbstbewusstsein aufbringen, ihm laut zu widersprechen. Dabei gab es in derselben Woche auch Momente, in denen genau jenes aufrichtige Interesse zum Vorschein kam, das fruchtbarer Boden für interdisziplinäre Interaktionen ist. Einige der Teilnehmenden entschlossen sich spontan dazu, uns nach Feierabend nochmal in den Seminarraum zu locken, um zu erzählen, womit sie sich in ihrem Studium so beschäftigen. Nicht nur muss man sich in seiner eigenen Ecke wohlfühlen, um zwei Dutzend Halbfremder seine Werke zu präsentieren - die Halbfremden müssen sie auch sehen wollen. Wir wollten, und die Fragerunden dauerten jeweils länger als die eigentlichen Präsentationen. Zum Beispiel wurde eine Filmstudentin zu den Details ihrer Dreharbeiten und den Ideen hinter ihren Skripts gelöchert - von Leuten, die sich ihrem Handwerk mit nichts als offenen Augen und Ohren näherten. Dies waren keine interdisziplinären Momente - es waren Momente der einseitigen Vermittlung. Doch genau diese Momente kommen in interdisziplinären Interaktionen immer wieder vor und man muss sich darauf einlassen können. Lass dich belehren! Lass dich aber auch nicht aus deinem eigenen Garten rausschwafeln. Lass dich nicht durch alle Disziplinen schleifen bis dir schwindelig wird und dein epistemisches Selbstbewusstsein3 zunichte gemacht ist, dein Vertrauen in dein eigenes Wissen und Wissen-Können. Interdisziplinarität kann ein köstliches Kritik-Süppchen kochen, aber das heißt nicht, dass die Zwiebel darin nicht mehr nach Zwiebel schmecken darf.

3. Neutraler Boden

Vor ein paar Jahren versuchte ich einmal, innerhalb von etwa einer halben Stunde mit einem Raum voller ausgewachsener Biomediziner*innen die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft zu ergründen. Ein älterer Philosophie-Student und ich waren vom interdisziplinären Think Tank, für den wir uns freiwillig engagierten, an einen Biomedizin-Kongress geschickt worden, um Philosophie ins Spiel zu bringen. In den Feedback-Formularen, die im Nachhinein ausgefüllt wurden, dominierte Irritation über diesen vagen und verwirrenden Programmpunkt im vollgepackten Kongressstundenplan. Was sollte das? Was für ein zielloses Sinnieren! Es kann sein, dass wir etwas unvorbereitet in die Moderations-Mission reinspaziert waren, und natürlich hatten wir zu wenig Zeit für eine so beängstigend breite Zielsetzung. Doch wenig später moderierte ich für denselben Think-Tank ein paar Abende, bei denen Menschen aus allen Ecken sich mit ein bis zwei Expert*innen über ebenso breite Themen unterhalten sollten. Doch nicht nur hatten sich alle Beteiligten bewusst zur Teilnahme an diesen Abenden entschieden, sie fanden auch auf fachlich absolut neutralem Boden statt: In von Teilnehmenden freiwillig zur Verfügung gestellten, privaten Wohnzimmern. Teenager und Professor*innen und alle dazwischen setzten sich auf fremde Sofas, teilten sich Pizzen und stürzten sich in interdisziplinäre Diskussionen. Die Biomediziner*innen waren an ihrem eigenen Kongress gewesen. Wir Möchtegern-Philosophenkönige waren reingeplatzt und versuchten, ihnen unsere Methoden schmackhaft zu machen. Dabei waren wir geduldete Gäste in einem Raum, der ganz und gar von einer anderen Disziplin geprägt war. Kann interdisziplinär auch unbalanciert sein, auch dort stattfinden, wo sich jemand auf fremdes Territorium wagt, um zu beraten, zu beeinflussen? Ja. Aber wenn man gerade erst den Sirenen ins Ungewisse gefolgt ist, sollte man es sich nicht zu schwer machen. Mach’s wie die Diplomat*innen, die nach Genf gehen, um zu verhandeln. Finde neben einem dritten Ding auch einen dritten Raum, der nicht der einen oder anderen Disziplin gehört. Statt die eine Disziplin in die andere hineinzuzerren, können so alle über ihre Grenzen hinauswachsen und auf terra nullius etwas Neues entstehen lassen.
 

1 Hall, Donald. 2005. «The Third Thing». Poetry Magazine. https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/articles/60484/the-third-thing

2 Halpern, Megan. 2021. «Negotiations and love songs. Integration, fairness, and balance in an art–science collaboration» In: Stars Rogers et al. (Hrsg.): Routledge Handbook of Art, Science, and Technology Studies. Routledge. 319 - 334.

3 Ciurria, Michelle. 2016. «Responsibility and Epistemic Confidence». Flickers of Freedom. https://philosophyonline.typepad.com/flickers_of_freedom/2016/08/responsibility-and-epistemic-confidence.html